VENEZIANISCHE IMPRESSIONEN
    2007 / 12

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Wie kam die Ratte
ins Boot?

Unser Vorplatz, wo sich die drei Kanäle kreuzen, ist eine Bühne, auf der sich fast jede Nacht eine neue Komödie abspielt. Die rätselhafteste ging so:

Ich erwachte, weil eine Gruppe fröhlicher, nicht mehr ganz junger Nachtschwärmer einen Heidenlärm veranstaltete, was an sich nichts Neues wäre, wie gesagt. Es war halbzwei Uhr nachts und da die Unterhaltung partout kein Ende nehmen wollte, ging ich ans Fenster und sah hinab. In einem kleinen Bötchen waren tatsächlich zwei Frauen und vier Männer in wilden Diskussionen auf Venezianisch verwickelt, von dem man bekanntlich kaum ein Wort versteht. Zwei Männer standen schon auf dem Quai und gestikulierten heftig mit. Der Älteste, offensichtlich der Bootsführer, begann plötzlich wie wild zu schaukeln und zu tanzen und es ging keine Sekunde, da plumpste die Frau mit den langen blonden Haaren in den Kanal und ich dachte, oh grausiges Gewässer. Zunächst taten alle so, als wäre nichts geschehen und kreischten nur noch mehr, als hätte Berlusconi ein Witzchen von sich gegeben.

Die Frau, irgendwo zwischen Quaimauer und Boot im Wasser um sich schlagend, stimmte nun ein bedroh-

wicht? Oder hat er Ratten auch nicht so gern? Und überhaupt: Wie kam die Ratte ins Boot? Fragen über Fragen!

Die Geschichte endet so, dass sie alle wieder umständlich einstiegen, um nach Hause gebracht zu werden. Soviel verstand ich: weil es doch ein bisschen weit zum Laufen wäre. Die Flasche Wein, die jemand neben die nassen Kleider gelegt hatte, kam auch mit. Die Acht im Bötchen tuckerten schliesslich laut kommentierend und lachend sowie bedrohlich schwankend in ihrem Bötchen davon.

liches Aiuto! Aiuto! an, das durch das ganze Quartier hallte und endlich Wirkung zeigte. Mit grossem Trari und Trara versuchten die tapferen Männer die Frau zu packen, wobei das Bötchen - weil natürlich alle auf die gleiche Seite drängten - erst recht zu kippen drohte. Was wiederum Gelächter nach sich zog, denn die hatten wohl schon einen sitzen. Nach wildem Gebalge gelang es den Mutigsten schliesslich doch, die Frau aus den grauen Fluten zu retten und sie an Bord zu ziehen. Das seltsame war, das jetzt auch ein Mann im Wasser strampelte und gerettet werden wollte. Bevor das geschah, flüchtete sich allerdings die im Bötchen verbliebene Frau aufs Quai und begann wie wild zu rauchen und gab keinen Ton mehr von sich.

Nach weiteren Minuten des Hin und Hers und des lauten Kommentierens dessen, was eben vorgefallen war, kletterten alle bis auf den Bootsführer auf die Quaimauer, was gar nicht so einfach war, weil es eben ein Bötchen war, das in der Schweiz für maximal vier Personen zugelassen wäre. Die platschnasse Frau und der ebenso triefende Mann standen herum, als wäre es mitten im August, dabei ist's ja auch hier September und das Thermometer zeigte 14 Grad. Es ging eine gute weitere Viertelstunde des Chiacchierens, Lachens und Jammerns - so ganz genau konnte man das gar nicht mehr unter-

scheiden - bis einer der Männer auf die Idee kam, der unterkühlten Dame sein Jackett anzubieten. Während sie sich ständig spuckend auszuziehen begann, die nasse Bluse und der Rock auf den Boden klatschte, begann der Bootsführer wie wild mit einem Tau in eine Ecke des Bootes zu schlagen. Ich verstand zunächst nicht, was der für einen Veitstanz aufführte, bis ich sie sah: eine grosse fette Ratte hockte vor Todesangst gelähmt in einer Ecke des Bötchens und harrte ihres Schicksals. Die Schläge mochten ihr allerdings nichts anzuhaben, auch nicht, als der Matador es mit seinem eigenen Ledergürtel versuchte. Schliesslich fand er eine Schöpfkelle, mit der er das Tier aufzuheben vermochte und mit grossem Schwung in den Kanal schleuderte. Die Ratte wird's ihm danken.

Nun stellten sich mir eine Reihe von Fragen, die mir mit den Indizien, die mir als Augenzeuge immerhin zur Verfügung stehen, bis heute den Kopf zermartern: Warum fiel die Frau ins Wasser? Weil der Bootsführer schaukelte? Weil sie in Panik vor der Ratte floh? Schaukelte der Bootsführer, weil er die Ratte sah? Und selber Angst hatte? Oder kam die Ratte erst zum Vorschein, als der Bootsführer schaukelte? Und wie kam der Mann ins Wasser? Als todesmutiger Helfer der Frau? Oder verlor er einfach das Gleichge-


PS: Seit gestern bauen sie da unten eine Baracke auf für ein Baubüro. Das Quartier werde saniert. Der Sommer ist wohl endgültig vorbei. Siehe:

2007 / 23

Die Bühne wird zur Baracke

PS 2: Ratten sind herrvorragende Schwimmer.